Im deutschen Fernsehen fließt jeden Abend Blut. Viel Blut. Manchmal wird geschossen, manchmal tun es auch Gift, ein Strang, tiefes Wasser oder eine steile Treppe.

Kaum ein Tag vergeht, an dem kein Krimi ausgestrahlt wird. Zuweilen muss man beim Zappen durch die deutsche Fernsehlandschaft sogar lange durchhalten, bevor man überhaupt ein krimiloses Programm findet. Vor allem die öffentlich-rechtlichen Sender präsentieren jeden Abend mindestens eine neue Straftat, die von Tatort-Kommissaren, Rosenheimer Cops oder Sokos aus der ganzen Republik gelöst werden. Aber auch bei den Privatsendern ist nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen: US-Serien sorgen dafür, dass die Krimi-Flut nie aufhört.

Faszination Krimi

Deutschland, ein Mordsland? Auch wenn die Kriminalstatistik für Deutschland im Jahr 2016 in der Tat einen Anstieg bei den Straftaten Mord und Körperverletzung verzeichnete, gehört es immer noch zu den Ländern mit den wenigsten Tötungsdelikten weltweit. Woher denn diese ausgeprägte Krimi-Faszination unter deutschen Fernsehzuschauern?
Die Erklärungen sind so vielfältig wie die Mordmethoden. Zuerst ganz einfach: Verbrechen bringen Quote. Und da Krimis generell beliebt sind und für hohe Einschaltquoten sorgen, schaukeln sich Nachfrage und Angebot quasi hoch. Aber es gibt noch andere, tiefergehende Erklärungen.

Das Spiel mit der Angst

Krimis bieten eine Art Ersatzabenteuer in unserem doch meist sehr geordneten und nicht sonderlich aufregenden Leben. Der Vorteil: der Nervenkitzel dauert nicht mehr als 60 bis 90 Minuten, findet nur am Bildschirm statt und wird gelöst von einem Kommissar oder einer Kommissarin, mit der wir uns identifizieren können. Wir versetzen uns also in Situationen hinein, die wir in Wirklichkeit gar nicht erleben wollen und in der wir letztendlich unsere Angst aushalten und kontrollieren können.

Ferner freuen wir uns natürlich, zusammen mit den Kommissaren, dass der Fall – fast immer – gelöst wird. Das Gerechtigkeitsempfinden wird befriedigt, die Spannung wird wieder abgebaut und der moralische Kampf von Gut gegen Böse endet positiv. Das abendliche oder wöchentliche Ritual erzeugt Orientierung und am Ende hat alles wieder seine gewohnte Ordnung.

German Angst

Und dabei sind wir beim dritten Aspekt: dem kulturellen. Schon allein die Definition von Gut und Böse ist je nach Gesellschaft, Religion, Philosophie und Perspektive der Menschen unterschiedlich. In unseren Kulturkreisen ist diese Auffassung sehr biblisch geprägt, eine universell gültige Definition gibt es jedoch nicht.

Nehmen wir spezifisch Deutschland unter die Lupe, dann spielt Angst eine durchaus wichtige Rolle. Im Ausland sind Deutsche bekannt für ihre manchmal ängstliche Neigung: Viele Deutsche fühlen sich schnell bedroht, mögen keine Veränderungen und versichern sich gegen jedes erdenkbare Risiko. „German Angst“ wird dieses Phänomen genannt. Ebenfalls kennzeichnend für Deutschland, zumindest aus fremder Sicht, ist die Vorliebe für Regeln und Strukturen. Fügt man diese Aspekte zusammen, dann wird klar, warum die Krimi-Flut im deutschen TV so ausgeprägt ist: Die Krimis appellieren an die Angst und sorgen gleichzeitig dafür, dass ein Gefühl der Kontrolle über die Angst entsteht. Nach spätestens anderthalb Stunden ist der Spuk vorbei und die Welt wieder in Ordnung – und damit das tiefste innere deutsche Bedürfnis befriedigt.

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