„Du bist mein bester Freund/meine beste Freundin“, haben wir uns im Sandkasten gesagt und dann meistens „für den Rest unseres Lebens” hinzugefügt. Das waren Zeiten! Wir haben nicht lange gezappelt, sondern uns einfach ewige Treue geschworen. Die meistens bis zum nächsten Streit währte, aber das steht auf einem anderen Blatt geschrieben ?

Das Aufbauen von Beziehungen ist Teil der menschlichen DNA – wir können nicht ohne Beziehungen. Was Kindern meistens leicht von der Hand geht, fällt uns Erwachsenen oft deutlich schwerer. Erst recht, wenn wir die Grenze überqueren und mit anderen Spielregeln für den Beziehungsaufbau konfrontiert werden. Dann sieht die Welt auf einmal anders aus.

„Es war für mich einer der größten Kulturunterschiede“, erzählte mir einmal eine niederländische Kollegin, die ein paar Jahre in Deutschland gewohnt hat. „Bis ich einmal zu etwas Einfachem wie einer Tasse Kaffee bei den Nachbarn eingeladen wurde, das hat so lange gedauert. Und auch sonst war es eine eher mühsame Geschichte. Auf der Arbeit, beim Sport – am Ende des Tages oder nach dem Training hat man einfach Tschüss gesagt und ist nach Hause gefahren. Zusammen gemütlich etwas trinken gehen oder sich gegenseitig besuchen, das gab es nicht.“

Zusammenhockende Niederländer versus distanzierte Deutsche?

Viele Niederländer, die in Deutschland leben oder gelebt haben, werden dies erkennen. Steht in den Niederlanden die Tür sozusagen für alle offen, dauert es in Deutschland oft deutlich länger, bis man auf einen Kaffee oder ein Bierchen eingeladen wird.

Das gilt nicht nur für den privaten, sondern auch für den geschäftlichen Bereich. Denn auch der Beziehungsaufbau mit dem neuen Geschäftspartner, Projektpartner oder Teamkollegen verläuft in den Niederlanden meist etwas schneller als in Deutschland. Das kann zu Irritationen führen, wenn man, wie meine Kollegin, nicht darauf vorbereitet ist.

Woran liegt das doch, dass Niederländer in den Augen der Deutschen manchmal sehr schnell sind und Deutsche aus niederländischer Sicht eher abwartend reagieren?

Klar kann ich jetzt etwas über beziehungsorientierte Niederländer und sachorientierte Deutsche schreiben. Wer regelmäßig meine Blogs liest, weiß das allerdings schon (hoffe ich ?). Man kann jedoch auch einmal die sogenannten „Beziehungskreise“ in Augenschein nehmen, ein Modell, das auf the circle of obligation von Helen Fein zurückgeht:

Beziehungskreise

Innerer Kreis

Im inneren Kreis finden wir die Personen, die zu unserer inner group gehören. Das sind die Menschen, die wir bei Beziehungskummer mitten in der Nacht anrufen können, denen wir im Notfall Geld leihen und für die wir um die ganze Welt reisen, damit man sich mal wieder sieht. Meistens handelt es sich dabei um unseren (Ehe)Partner oder unsere (Ehe)Partnerin und eventuelle Kinder, um den besten Freund oder die beste Freundin – aus Sandkastenzeiten oder danach –, gegebenenfalls um unsere Eltern oder Geschwister. Für Niederländer und Deutsche gilt: Oft ist es eine exklusive Gruppe von ungefähr sechs Personen.

2. Kreis

Hier befinden sich die Menschen, mit denen wir eine Bindung haben und ihnen gegenüber auch Verpflichtungen empfinden, wie zum Beispiel unsere Geschwister und Eltern (sofern nicht in Kreis 1), gute Freunde, befreundete Kollegen, vielleicht sogar der eine oder andere sehr geschätzte Geschäftspartner. Diese Gruppe hat einen weniger exklusiven Charakter, ist jedoch ebenfalls nicht sehr groß. Personen aus dem 2. Kreis laden wir zum Geburtstag ein, wir telefonieren regelmäßig und sind sogar bereit, ihnen Geld zu leihen. Aber wenn es nicht passt, können wir auch “Nein” sagen, ohne dass uns dies sehr übelgenommen wird.

3. Kreis

Dies ist der Kreis unserer Bekannten: unsere Nachbarn oder Kollegen, mit denen wir uns ab und zu unterhalten, unsere Geschäftsbeziehungen, Eltern, die wir auf dem Schulhof treffen, Facebook-Freunde usw. Also Personen, mit denen wir uns einigermaßen verbunden fühlen und denen wir bei Bedarf gern helfen, ohne dass wir uns ihnen gegenüber sonderlich verpflichtet fühlen, Geld zu leihen oder stundenlang ihren Beziehungskummer anzuhören.

Äußerer Kreis

In diesem Kreis befinden sich die Menschen, denen wir begegnen, die wir jedoch nicht persönlich kennen. Ein Mitreisender, neben den wir uns setzen, Personen, mit denen wir im Aufzug stehen oder denen wir zufällig in der Umkleide des Fitness-Studios begegnen. Wir empfinden keine Bindung, aber man grüßt sich höflich – der guten Kinderstube sei Dank ?.

In den meisten westlichen Kulturen sieht das Modell so aus, in nicht-westlichen Kulturen kann die Anzahl der Kreise durchaus weniger sein (was ich jetzt der Einfachheit halber außer Acht lasse). Wie kann man nun anhand dieses Modells den Unterschied zwischen deutschen und niederländischen Beziehungen erklären?

Der innere und der äußere Kreis stimmen in Deutschland und den Niederlanden weitestgehend überein. Der Unterschied liegt beim zweiten und dritten Kreis.

Grenze zwischen Kreis 2 und 3

In Deutschland ist die Grenze zwischen dem zweiten und dem dritten Kreis relativ fest. Kollegen, Geschäftspartner, Nachbarn und Bekannte befinden sich im Allgemeinen im 3. Beziehungskreis. Der 2. Beziehungskreis ist für die Personen reserviert, mit denen man auch gern den privaten Umgang pflegt. Sogar Kollegen, mit denen man auf der Arbeit gut zurechtkommt, werden eher selten zu einer privaten Geburtstagsfeier eingeladen und damit in den 2. Kreis aufrücken – eine herzliche Beziehung, die man hegt und pflegt, mit mehr Verpflichtungen als im 3. Kreis, aber noch keine Beziehung, in der man quasi alles füreinander tut.

In den Niederlanden verläuft die Grenze zwischen dem dritten und dem zweiten Kreis eher fließend. Nach dem Sport zusammen ein Bierchen trinken? Gerne! Den netten Kollegen, mit dem man sich in der Mittagspause immer angeregt unterhält, zur Geburtstagsfeier einladen? Selbstverständlich! Kollegen, Nachbarn, Bekannte oder sogar Geschäftsbeziehungen bewegen sich relativ leicht von den 3. in den 2. Kreis. Und – das muss gesagt werden – gelegentlich genauso leicht wieder in den 3. Kreis zurück ?

Fallstricke

Aus niederländischer Sicht ist die fließende Grenze zwischen dem zweiten und dem dritten Beziehungskreis normal. Niederländer sind dann manchmal erstaunt oder sogar irritiert darüber, dass dies in Deutschland anders ist. Außerdem übersehen sie leicht, dass Deutsche den flexiblen Übergang vom 3. in den 2. Kreis als verwirrend empfinden können und nicht wissen, wie sie dies einschätzen sollen: bin ich nun eine Beziehungskreis-3-Beziehung oder befinde ich mich schon in Beziehungskreis 2? Natürlich gibt es Signale, die darauf hindeuten, wie zum Beispiel das Maß an Vertrautheit in Gesprächen. Diese sollte man allerdings erst kennen und deuten lernen.

Aus deutscher Sicht ist die feste Grenze zwischen Beziehungskreis 2 und 3 normal. Deutsche sind dann manchmal erstaunt darüber, dass Niederländer andere Erwartungen haben und sich über die abwartende deutsche Haltung wundern. Außerdem übersehen sie leicht, dass Niederländer eine solche “Distanziertheit” nicht gewohnt sind und diese daher sogar persönlich nehmen können. In den allermeisten Fällen handelt es sich allerdings nicht um etwas Persönliches, sondern lediglich um eine andere Art und Weise, Beziehungen zu definieren. Das sollte man jedoch erst wissen und deuten lernen.

Fazit

Deutsche und Niederländer nehmen ihre Beziehungskreise teilweise unterschiedlich war. Es ist sehr hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, welche (unausgesprochenen) Erwartungen und Verpflichtungen jeder Beziehungskreis mit sich bringt. Das gilt sowohl für private als auch für geschäftliche Beziehungen, für Teams und Organisationen. Eine gute Abstimmung über die kulturell geprägten, gegenseitigen Erwartungen und den damit einhergehenden Grad an Verpflichtungen hilft, Missverständnisse zu vermeiden. Und sind dann doch einmal Irritationen entstanden, kann ein gutes Gespräch – evtl. anhand dieses Modells – Klarheit schaffen.

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